Katze aus Flow (2024) Interview mit Regisseur Gints Zilbalodis

Gints Zilbalodis: Der Regisseur über sein Oscar-Gewinnerfilm Flow

Der Animationsfilm Flow reitet (oder schwimmt?) auf einer Erfolgswelle: Bisher räumten Regisseur Gints Zilbalodis und sein Team für den Film zahlreiche internationale Auszeichnungen ab. Darunter finden sich nahmhafte Awards wie der Golden Globe, der César, der New York Film Critics Circle Award und der Europäische Filmpreis. Bei den Oscars 2025 am letzten Sonntag folgte die Krönung. Flow war für zwei Oscars nominiert (Bester internationaler Film und Bester Animationsfilm) und hat letzteren mit nach Hause nehmen können. Es ist die erste Auszeichnung für einen lettischen Film.

Der Rummel um Gints Zilbalodis ist demnach entsprechend gross. Wir haben die Chance genutzt, und Gints Zilbalodis beim Europäischen Filmpreis 2024 interviewt zu Flow, seinen Inspirationen und seiner Arbeit allgemein. Flow startet am 6. März in den deutschen Kinos und ist weiterhin in der Schweiz zu sehen.

Die Kritik zu Flow findet ihr hier.

Regisseur Gints Zilbalodis im Gruppeninterview im Schweizerhof Luzern
Regisseur Gints Zilbalodis im Gruppeninterview im Schweizerhof Luzern – unmittelbar vor der Verleihung der European Film Awards. | Bild: Whatthefilm.ch (Marcel Schmid)
Gints Zilbalodis, wie sind Sie auf die Idee zu Flow gekommen? Was hat Sie motiviert?

Gints Zilbalodis: Als ich in der Schule war, habe ich einen Kurzfilm über eine Figur gemacht, die ich zu dieser Zeit entwickelt hatte. Es war eine Geschichte über die Angst einer Katze vor Wasser, was, denke ich, etwas ist, das jeder nachvollziehen kann. Es ist eine einfache Prämisse, und vielleicht war der Kurzfilm technisch nicht das Beste, was ich je gemacht habe, aber irgendetwas an dieser Idee hat mich nicht losgelassen. Nachdem ich meinen ersten Spielfilm Away gemacht hatte und die Möglichkeit bekam, mit einem grösseren Team zu arbeiten, wollte ich eine Geschichte darüber erzählen, wie man zusammenarbeitet und lernt, als Team zu agieren – weil ich genau diese Erfahrung selbst gemacht habe. Ich dachte, die Katze wäre der perfekte Protagonist für diese Geschichte. Also habe ich diese beiden Ideen kombiniert, und so hat alles begonnen.

Katze Golden Retriever Lemur Sekretärvogel und Capybara aus Flow von Gints Zilbalodis
Bild: © 2024 Dream Well Studio, Sacrebleu Productions, Take Five
In Flow spielen nebst der Katze noch vier weitere Tiere eine wichtige Rolle. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Es begann mit der Katze – das war von Anfang an klar. Dann wollte ich unbedingt meinen Hund in die Geschichte einbauen, um ein Gegengewicht zur Katze zu schaffen. Der Hund ist in seiner Persönlichkeit das genaue Gegenteil der Katze und geht eine entgegengesetzte Entwicklung durch: Während die Katze lernt, anderen zu vertrauen, wird der Hund unabhängiger.

Bei den anderen drei Figuren mussten wir uns etwas länger Gedanken darüber machen. Während des Schreibens haben wir überlegt: Was würde passieren, wenn wir diese verschiedenen Tiere zusammenbringen? Welche Dynamik würde entstehen? Sie mussten alle sehr unterschiedlich sein – bezüglich ihrer Silhouette, ihrer Art sich zu bewegen und ihrer «Stimme».

Eines der weiteren Tiere sollte gross sein, eine beeindruckende Präsenz haben und von der Katze bewundert werden. Die Wahl fiel schliesslich auf den in Südafrika ansässigen Sekretärsvogel, der perfekt in dieses Konzept passte.

Dann entschieden wir uns für den Lemur – er bringt eine ganz eigene Dynamik ins Team, weil er Dinge greifen und sich mit Sprüngen schnell fortbewegen kann. Und schliesslich kommt noch ein Capybara vor – die einzige Figur, die sich während der Reise überhaupt nicht verändert. Während alle anderen etwas lernen oder sich entwickeln, bleibt sie völlig gelassen. Ursprünglich war das als komischer Gag gedacht – eine Figur, die selbst in den chaotischsten Situationen völlig entspannt bleibt. Aber am Ende passte es perfekt zum Kernthema des Films: Ängsten zu begegnen, ohne sich von ihnen beherrschen zu lassen.

Alle Tiere in Flow beobachten einen Wal
Bild: © 2024 Dream Well Studio, Sacrebleu Productions, Take Five / European Film Awards 2024
Die Umwelt, in der die Charaktere von Flow agieren, ist speziell – grundsätzlich ist sie realistisch gestaltet, manchmal kippt sie jedoch ins surreale. Wie haben Sie diese Balance entwickelt?

Es war keine bewusste, strategische Entscheidung, sondern eher ein organischer und spontaner Prozess. Die Welt existiert in erster Linie, um die Emotionen der Charaktere zu unterstützen – sie ist nicht nur Kulisse. Ich beginne nicht damit, eine Welt zu erschaffen und dann die Geschichte darin zu platzieren.

Wenn ich beispielsweise zeigen möchte, dass die Katze ängstlich ist, dann gestalte ich die Umgebung so, dass sie dieses Gefühl verstärkt. Flow beginnt eher realistisch, aber je weiter die Reise voranschreitet, desto surrealer wird die Welt. Das war eine bewusste Entscheidung – diesen Wandel langsam und allmählich geschehen zu lassen.

Letztendlich bewegt sich die Geschichte in Richtung magischen Realismus, wo das Geschehen zunehmend abstrakter wird und stärker von Emotionen als von Logik geleitet wird. Das war für mich das Wichtigste: eine Erfahrung zu erschaffen, die sich intuitiv anfühlt, anstatt eine Welt mit einer detaillierten Hintergrundgeschichte aufzubauen.

Sektretärvogel und Katze aus Flow (2024)
Die Katze überwindet ihre Ängste. | Bild: © 2024 Dream Well Studio, Sacrebleu Productions, Take Five
Kommen wir auf eines der Hauptelemente von Flow zu sprechen – dem Wasser. Wie war es, im Animationsprozess mit Wasser zu arbeiten, Gints?

Es war sehr schwierig. In jedem Film, egal ob animiert oder Live-Action, heisst es immer: «Vermeide Wasser», weil es unglaublich schwer zu kontrollieren ist. Ich musste also komplett neue Tools speziell für Flow entwickeln, und das alles in einer einzigen Animationssoftware. Wir haben den gesamten Film in der Gratissoftware Blender animiert, da das Budget sehr klein war. Normalerweise gibt es bei Animationsfilmen oder VFX-lastigen Live-Action-Filmen ein riesiges Team von Künstlern, die sich um die Wassereffekte kümmern – oft Dutzende von Leuten. Bei uns waren es nur zwei Personen, die das gesamte Wasser animiert haben. Und es gibt nicht nur eine Art, Wasser darzustellen: Ein Fluss, ein Ozean, eine Pfütze – jedes dieser Elemente erfordert ein völlig anderes System.

Wir haben einige der letzten Szenen buchstäblich erst ein paar Tage vor der Premiere fertiggestellt – das war ziemlich intensiv. Nach dieser Erfahrung dachte ich mir: «In meinem nächsten Film wird es kein Wasser geben!» Aber dann fiel mir auf, dass Wasser auch in meinem ersten Spielfilm Away eine zentrale Rolle spielte. Es scheint also ein Muster zu geben. Und wenn ich so etwas bei mir bemerke, versuche ich bewusst, mich in andere Richtungen zu bewegen, um mich selbst herauszufordern. Es ist leicht, sich in einer wiederkehrenden Struktur festzusetzen, aber dann wiederholt man sich nur. Deshalb möchte ich mich immer wieder neu erfinden.

Komplizierte Wasseranimation in Blender für Flow von Gints Zilbalodis
Wasseranimationen gelten für 3D-Grafiker als aufwändig zu realisieren. | Bild: © 2024 Dream Well Studio, Sacrebleu Productions, Take Five
Wie seltsam war es, den Film in Spanien zu zeigen? Denn eines der Themen von Flow – eine Überschwemmung – war ja dort sehr präsent; diese Katastrophe war real.

Ich war tatsächlich auf einem Festival in Spanien, in Valencia. Aber ich war auch in Sevilla und bin durch Málaga gereist – und das war genau während dieser Überschwemmungen. Es war etwas seltsam, den Film in Spanien zu präsentieren. Der Film wurde jedoch sehr gut aufgenommen, denke ich. Wir haben einige Preise gewonnen, was wahrscheinlich ein gutes Zeichen ist. Aber es geht ja nicht nur darum.

Letztendlich zeigt Flow, wie die Charaktere diese Katastrophen überwinden. Nach der Zerstörung gibt es Hoffnung. Und es geht darum, dass sie es vielleicht alleine nicht geschafft hätten, aber durch Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung doch einen Weg finden. Ich denke, wenn man eine Dokumentation über solche realen Zerstörungen zeigen würde, würden viele Menschen vielleicht gar nicht hinschauen wollen. Aber wenn man dieselbe Thematik in Form einer Abenteuer-Geschichte mit Tieren erzählt – mit Humor und Leichtigkeit – kann man das Publikum eher erreichen und die Botschaft möglicherweise sogar stärker vermitteln, als durch eine reine Abbildung der Realität.

Lemur und Katze spielen auf dem Boot mit dem Spiegel
Bild: © 2024 Dream Well Studio, Sacrebleu Productions, Take Five
Sie waren auch in Japan unterwegs und haben den legendären Videospielentwickler Hideo Kojima getroffen – wie hat er auf den Film reagiert?

Für meinen vorherigen Film Away hat er einige sehr nette Kommentare zur japanischen Veröffentlichung geschrieben. Und als sich nun die Gelegenheit ergab, nach Japan zu reisen, wollte ich ihn endlich persönlich treffen. Er ist in Japan – und weltweit – unglaublich bekannt, also war das eine grossartige Erfahrung. Er hat mich eine Stunde lang interviewt und mir sein Studio gezeigt, das aussieht wie ein verrücktes Raumschiff mit seltsamen Lichtern – das war eine richtig coole Erfahrung.

Kojima verglich meine Filme mit seinen Spielen – besonders in Bezug auf Charaktere, die sich in verlassenen Landschaften bewegen und Wege finden, mit anderen in Kontakt zu treten. Wir haben darüber gesprochen, wie dieses Thema aktuell im Zeitgeist steht: Obwohl wir heute mehr denn je vernetzt sind, fühlen sich viele Menschen gleichzeitig weniger verbunden. Es geht also darum, diese Verbindung wiederzufinden – und das ist ein universelles Thema, das uns alle betrifft.

Wenn es um Reaktionen im Allgemeinen geht – reagierten Kinder und Erwachsene unterschiedlich auf Flow?

Beim Machen des Films habe ich nicht wirklich über eine Zielgruppe nachgedacht. Ich habe mir nicht überlegt, ob es ein Kinderfilm oder ein Film für Erwachsene wird – ich wollte einfach einen Film machen, den ich selbst gerne sehen würde. Es ist aber grossartig zu sehen, dass Kinder sich auf einen Film wie diesen einlassen, obwohl ihnen nicht jede Information auf dem Silbertablett serviert wird. Es ist ein schöner Beweis dafür, dass man ihre Intelligenz respektieren kann und sie sich vieles selbst erschliessen.

Kinder sind oft sehr direkt – sie wollen wissen, was mit einer bestimmten Figur passiert oder wie es weitergeht. Und das ist manchmal schwer zu beantworten, weil ich möchte, dass sie selbst darüber nachdenken, anstatt alles vorgegeben zu bekommen. Ich versuche dann zu vermitteln, wie ich zu bestimmten Entscheidungen im Film gekommen bin und lasse sie sich selbst ein Bild machen. Erwachsene hingegen stellen eher technische Fragen und denken viel praktischer über den Film nach. Aber es ist schön zu sehen, dass ich sowohl Vorführungen mit nur Kindern als auch mit nur Erwachsenen hatte – und dass diese Grenzen zwischen «Kinderfilm» und «Erwachsenenfilm» immer mehr verschwimmen.

Katze in düsteren Umgebung
Gints Zilbalodis Film balanciert zwischen düsteren und heiteren Momenten. | Bild: © 2024 Dream Well Studio, Sacrebleu Productions, Take Five
Wir würden gerne noch etwas über die Stimmen der Tiere wissen, weil sie so authentisch klingen. Wie wurden sie gemacht?

Ja, das sind echte Tierstimmen, und es war uns wichtig, keine menschlichen Nachahmungen von Tiergeräuschen zu verwenden. Was ich vorher nicht wusste: Katzen beispielsweise haben tatsächlich sehr individuelle Stimmen, und es ist gar nicht so einfach, sie zu mischen. Deshalb hört man im Film grösstenteils eine einzige Katze, aber es gibt ein paar Momente, in denen wir verschiedene Aufnahmen verwenden mussten. Beim Capybara wurde etwas getrickst. Capybaras sind nicht besonders gesprächig. Unser Sounddesigner und ein Mitarbeiter des Zoos haben versucht, ein Capybara dazu zu bringen, Geräusche zu machen. Aber das Problem war, dass die echten Geräusche nicht zum Charakter passten. Sie waren sehr hochfrequent und klangen eher ängstlich – fast wie ein kleiner Hund. Also mussten wir ein bisschen kreativ werden und haben eine Art «offenes Casting» für Tierstimmen gemacht. Unsere Wahl fiel auf ein Kamel, weil es eine tiefere, ausdrucksstärkere Klangfarbe hatte.

Capybara aus dem Film Flow
Bild: © 2024 Dream Well Studio, Sacrebleu Productions, Take Five
Bei Flow geht es um eine Katze, die versucht, ihre Angst zu überwinden. Hat das Machen dieses Films Ihnen persönlich in irgendeiner Weise geholfen?

Es war mir wichtig zu zeigen, dass die Katze zwar einige Ängste überwindet, aber trotzdem noch welche hat. Ich glaube nicht, dass wir uns als Menschen völlig verändern können, egal was wir tun. Wir können uns verbessern, wir können wachsen, aber wir bleiben trotzdem wir selbst.

Deshalb wollte ich zeigen, dass die Katze, selbst nach allem, was sie erlebt, noch immer Ängste hat. Aber sie hat auch andere Figuren um sich, die sie unterstützen – und das Wichtige ist, dass sie diese Unterstützung zulässt. Ich denke, ich habe deswegen viel aus diesem Film gelernt. Ich habe gelernt, mehr Vertrauen in andere Menschen zu haben. Für meinen nächsten Film möchte ich gerne mehr Arbeit delegieren und enger mit anderen zusammenarbeiten.

Katze unter Wasser made in Blender
Eine tauchende Katze gibts wohl nur in Flow von Gints Zilbalodis zu sehen. | Bild: © 2024 Dream Well Studio, Sacrebleu Productions, Take Five
Und wenn Sie mit einem anderen Studio zusammenarbeiten könnten – welches würden Sie wählen, wenn Sie die freie Wahl hätten?

Ich arbeite eigentlich sehr gerne in meinem eigenen Studio. Ich mag Kollaborationen, aber es hängt immer vom jeweiligen Projekt ab. Es kommt darauf an, welche Geschichte erzählt wird, und dann überlege ich, welche Menschen am besten dazu passen würden, um daran mitzuarbeiten.

Wir haben viel Zeit damit verbracht, unser eigenes Studio aufzubauen und unsere Identität zu definieren. Es wäre schade, das jetzt einfach aufzugeben. Es gab bereits Interesse von anderen Studios, mit mir zu arbeiten, aber ich geniesse die kreative Freiheit, die ich in meinem eigenen Studio habe. Natürlich bekomme ich Feedback von anderen, aber ich kann letztendlich meine eigenen Entscheidungen treffen. Das ist heutzutage immer seltener, weil viele grosse Produktionen stark von Unternehmen gesteuert werden, und Regisseure oft wenig wirkliche Entscheidungsfreiheit haben. Mir ist es wichtig, diesen unabhängigen Raum zu bewahren.

Regisseur Gints Zilbalodis und Team European Film Award bester Animationsfilm
Regisseur Gints Zilbalodis und sein Team nehmen den European Film Award für den besten Animationsfilm entgegen. | Bild: European Film Awards 2024
Wie schauen sie auf die kommende Oscar-Verleihung, Gints?

Es ist aufregend, dass Flow Lettlands offizielle Einreichung in den internationalen Kategorien ist – gerade weil es sich um einen Animationsfilm handelt, was eher selten vorkommt. Es ist zwar schon passiert, aber trotzdem eine Besonderheit. Wir waren uns nicht sicher, ob der Film sich überhaupt für die internationale Kategorie qualifizieren kann, weil er keinen Dialog enthält. Früher hiess diese Kategorie «Bester fremdsprachiger Film», und in gewisser Weise hat Flow ja auch eine Art Sprache – nur eben keine menschliche. Zum Glück wurde er dennoch zugelassen. Ausserdem wurde bisher noch nie ein lettischer Film für einen Oscar nominiert. Also hoffe ich einfach, dass vielleicht diesmal der richtige Moment dafür gekommen ist. Man kann ja träumen!