John Magaro in Köln 75_Interview mit Ido Fluk

Ido Fluk: Der «Köln 75»-Regisseur über sein neues Musik-Drama

Seit dem 13. März läuft das Musik-Drama Köln 75 in den Kinos in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Zuvor feierte der neue Film von Regisseur Ido Fluk seine Weltpremiere an der 75. Berlinale. Köln 75 handelt von der jungen Konzertorganisatorin Vera Brandes (Mala Emde), die in den 70er-Jahren internationale Musiker nach Köln holt. Weltberühmt wurde sie mit der Durchführung des legendären Köln Concert, bei dem der Jazzpianist Keith Jarrett (John Magaro) aufgetreten ist. Fluks neuestes Werk schildert ihre Herausforderungen, den Disput mit ihren Eltern und zeigt auf, wie eine junge Frau trotz vielen Vorurteilen erfolgreich wurde. Denn das weltbekannte Konzert hätte beinahe nicht stattgefunden. Wie es dennoch dazu kam, gibts nun auf der grossen Leinwand zu sehen.

Das rasante Musik-Drama ist beim 75. Deutschen Filmpreis in vier Kategorien nominiert (Bester Spielfilm, Beste Hauptdarstellerin, Bester Nebendarsteller und Bester Schnitt), der am 9. Mai in Berlin vergeben wird. Im Rahmen der Schweizerpremiere von Köln 75 durften wir ein spannendes Interview mit Regisseur Ido Fluk in Zürich führen. Wie er auf die Idee für diesen Film gekommen ist und wie er ihn inszeniert hat, findet ihr hier heraus.

Vicky Engler und Ido Fluk im Interview Zürich 2025
Unsere Redakteurin Vicky im Gespräch mit Regisseur Ido Fluk. | Bild: Victoria Engler
Whatthefilm: Ido Fluk, was hat Sie dazu gebracht, einen Film über Vera Brandes und die Organisation des Köln Concerts zu realisieren?

Ido Fluk: Ich habe die Geschichte in einem Magazin gelesen und dachte: Wow, das ist eine grossartige Gelegenheit, eine musikalische Geschichte zu erzählen, die nicht die gleiche ist, die wir immer wieder in Filmen sehen. Normalerweise läuft es ja so: Ein Musiker wird entdeckt, hat eine tolle Stimme oder spielt grossartig Gitarre, gründet eine Band, wird berühmt, erlebt irgendeinen Absturz – vielleicht durch Drogen oder andere Probleme – und am Ende gibt es ein grosses Comeback-Konzert. Es ist, als ob uns ständig der gleiche Film serviert wird, nur mit anderen Figuren und anderer Musik.

Aber als ich von Vera las, dachte ich: Das ist eine tolle Gelegenheit, das einmal ganz anders zu erzählen. Nicht mit dem Scheinwerfer auf den Sänger oder Musiker, sondern auf die Organisatorin. Denn es gibt etwas ungemein Spannendes daran, die Geschichten unsichtbarer Menschen zu erzählen. Statt immer wieder dasselbe zu wiederholen, wollte ich jemanden ins Rampenlicht stellen, der in der Geschichte dieses Konzerts bisher unsichtbar geblieben ist. Ohne Vera Brandes hätte es das Köln Concert nicht gegeben, aber sie hat nie die Anerkennung oder Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdient hätte. Dieser Film ist also auch eine Art Korrektur – er rückt sie ins Zentrum, erzählt ihre Geschichte und nicht Keith Jarretts. Denn seine Geschichte wurde bereits seit vielen Jahren gefeiert.

Bild: Praesens-Film / Alamonde Filmverleih
Ja, wir hatten ja in den letzten Jahren einen regelrechten Boom solcher Filme. Hat gerade das Sie beeinflusst, diesen Film bewusst anders als andere Musikfilme zu drehen?

Ja, mich hat tatsächlich die Idee gereizt, etwas anderes zu machen. Ich wollte keinen Film über Musik schreiben, sondern einen Film, der sich anfühlt wie Musik. Ich wollte einen Film schreiben, der sich wie eine Improvisation anfühlt, und deshalb habe ich ihn auch so geschrieben. Normalerweise plant man ein Drehbuch sehr genau: Man erstellt ein Beat-Sheet, eine Drehbuch-Outline, man weiss genau, wo man hinwill und hat eine Struktur. Sonst verliert man sich und verschwendet Zeit.

Aber für diese Geschichte wollte ich genau das Gegenteil. Ich wollte, dass es sich anfühlt, als würde jemand live auf der Seite improvisieren. Also habe ich mich eingeschlossen – das war während der COVID-Zeit – und stundenlang in meinem Zimmer geschrieben, ohne Plan und ohne grosse Korrekturen. Ich habe Musik angemacht und einfach geschrieben, ohne zu wissen, was als Nächstes passiert. Wenn ich einen Fehler gemacht habe, habe ich ihn bewusst behalten.

Das zeigt sich im Film auch: Er beginnt mit einer Szene, dann stoppt er plötzlich und es heisst: «Noch mal von vorn!» Normalerweise würde man das löschen, aber ich habe es drin gelassen. Der Film nimmt sich viele Freiheiten mit verschiedenen filmischen Mitteln – und normalerweise heisst es ja, man müsse in der Anwendung dieser Mittel konsistent sein. Aber ich wollte das eben nicht. Ich wollte völlige Freiheit. Als ich das Drehbuch an meine Produzenten gegeben habe, stand auf der ersten Seite nicht «Geschrieben von», sondern «Improvisiert von Ido Fluk». Ich wollte, dass es sich anfühlt, als hätte ich Musik improvisiert.

Susanne Wolff als ältere Vera Brandes unter der Regie von Ido Fluk
Der Blick in die Kamera ist ein Stilmittel des Films. | Bild: Praesens-Film / Alamonde Filmverleih
Also so ähnlich improvisiert wie es der Jazz-Musiker Keith Jarrett im Film macht?

Ja, genau wie Jazz! So, wie Musiker ein Stück schreiben: Sie nehmen ein Instrument in die Hand, fangen an zu spielen und finden den richtigen Moment. Der Musiker John Coltrane hat einmal gesagt: «Wenn du etwas sagen willst, fang in der Mitte an und gehe gleichzeitig in beide Richtungen.» Genau diese Philosophie der Freiheit wollte ich in den Film einbringen – keine starren Regeln oder vorgegebenen Formate, sondern absolute Freiheit. Ich glaube, wenn man den Film sieht, spürt man diese Freiheit auch. Er fühlt sich so an, als würde er im Moment entstehen, als ob nichts festgelegt wäre.

John Magaro als Keith Jarrett unter der Regie von Ido Fluk
Bild: Praesens-Film / Alamonde Filmverleih
Sie sagen, dass das Drehbuch eine Improvisation war, aber ich fand den Film manchmal sehr bewusst in seinen Entscheidungen. Zum Beispiel mit dem Durchbrechen der vierten Wand. War wirklich alles improvisiert oder haben Sie später noch Anpassungen vorgenommen?

Es ist tatsächlich sehr nah an der ersten Fassung des Drehbuchs geblieben. Ich wollte unbedingt diese Unmittelbarkeit bewahren. Natürlich basiert es auf ihrer wahren Geschichte. Ich habe Vera Brandes viele Stunden lang interviewt, bevor ich mit dem Schreiben begonnen habe. Sie war sehr offen und hat mir ihre Lebensgeschichte erzählt. Über ihre 50. Geburtstagsfeier, über ihren Vater, über die Schreie aus der Klinik im Erdgeschoss ihres Elternhauses. Sie hat mir erzählt, wie sie nachts rausschlich, um heimlich Telefonate zu führen – all das ist wahr. Wir haben sogar den alten Boulevard-Artikel gefunden, in dem stand: «Noch nicht einmal 20, aber schon ein alter Jazz-Hase.»

Diese Dinge existieren wirklich in den Archiven. Ich hatte also Material, aber ich wollte mir keine festen Regeln auferlegen. Es ist ja auch Veras Geist, der in dem Film steckt. Es ist ein Film über Jazz, aber eigentlich ist es ein Punkrock-Film. Der Soundtrack ist Punkrock und sie selbst ist eine Punkrock-Figur. Sie war eine 16-Jährige in den 70er-Jahren, die sich nicht damit zufrieden gab, Hausfrau oder Zahnärztin zu werden, wie es von ihr erwartet wurde. Sie war rebellisch, sie war politisch aktiv, sie ging auf die Strasse – und sie hat die Musikszene verändert. Mit 18 Jahren kannte jeder in der Szene ihren Namen. Es gibt heute nicht mehr viele junge Menschen, die so etwas tun.

Ido Fluk Mala Emde Vera Brandes Alexander Scheer John Magaro und Ulrich Tukur an der 75 Berlinale 2025 Köln 75
Regisseur Ido Fluk und sein Team bei der Premiere an der Berlinale 2025. | Bild: Praesens-Film / Alamonde Filmverleih
Porträtiert der Film Vera Brandes sehr genau oder ist das vielleicht auch eine Art Klischee über die rebellische Jugend der 70er-Jahre?

Nein, das ist wirklich ihr Leben. Die Demonstration für das Recht auf Abtreibung – die hat sie wirklich in Köln organisiert. Das ist keine Erfindung des Films. Und wenn man sie heute trifft, spürt man diese Energie immer noch. Mala Emde, die Vera im Film spielt, ist extra nach Griechenland gereist, um Zeit mit ihr zu verbringen. Sie wollte diese Energie aufnehmen. Also ihre Art zu sprechen und sich in der Welt zu bewegen. Ich war gerade mit Vera für Köln 75 auf der Promotionstour und wir haben den Film vorgestellt. Sie ist voller Energie und führt uns an. Man kann sich nur vorstellen, wie sie im Alter von 16 Jahren war!

Bild: Praesens-Film / Alamonde Filmverleih
Im Film gibt es ja diesen Jazzmusik-Journalisten. Handelt es sich hierbei um eine fiktive Figur?

Er ist eine Kombination aus mehreren Jazzjournalisten, die damals aktiv waren. Ich würde also nicht sagen, dass er völlig fiktiv ist. Ich wollte nicht nur eine einzige Person darstellen. Aber diese Art von Sprache, dieser Tonfall, diese Art zu sprechen – das habe ich von Persönlichkeiten übernommen, die damals in der Szene aktiv waren. Es gab damals viele sehr selbstgefällige Journalisten.

Vera wird von den Journalisten ausgefragt. | Bild: Praesens-Film / Alamonde Filmverleih
Diese Figur erklärt dem Publikum ja auch, wie Jazz funktioniert. War das eine bewusste Entscheidung, um zu vermitteln, dass Jazz etwas Rebellisches ist?

Ja, es geht dabei weniger um Jazz als Ganzes, denn Jazz kann so vieles sein. Es geht darum zu zeigen, warum das, was Keith Jarrett tut, so unglaublich schwer ist – warum es fast unmöglich ist. Ich glaube, viele Menschen verstehen nicht, wie hart es ist, nachts in einem kleinen Auto zu reisen, in einer fremden Stadt anzukommen und ein Konzert zu spielen, ohne vorher zu wissen, was man eigentlich spielen wird. Man weiss nicht, wie es klingen wird, und trotzdem muss es so gut sein, dass man es als Album veröffentlichen kann.

Ich glaube, das ist den meisten Leuten nicht bewusst. Und der Journalist hilft uns zu verstehen, warum das so eine enorme Herausforderung ist. Und warum Keith Jarrett auch unsere Anerkennung verdient. Viele Menschen haben das Bild von ihm, dass er unfreundlich ist. Es gibt ja diese YouTube-Videos, wo er Leute zurechtweist, weil sie husten. Und ich wollte erklären, warum er so ist. Er hat einfach eine ganz besondere Art, die Welt wahrzunehmen.

Keith Jarrett im Gespräch mit seinem Manager. | Bild: Praesens-Film / Alamonde Filmverleih
Und welche weiteren Recherchen haben Sie durchgeführt, ausser mit Vera Brandes zu sprechen?

Wir haben viel Archivmaterial gesichtet, um herauszufinden, wie Köln damals aussah, wie die Szene war, was für eine Atmosphäre im Café Campi herrschte, welche Musik dort gespielt wurde und wie die Jazztage waren. Wir verwenden im Film ja auch Archivaufnahmen. Ich würde sagen, dass dies der am gründlichsten recherchierter Film ist, an dem ich je gearbeitet habe. Aber gleichzeitig könnte man tausend verschiedene Geschichten über Köln in den 70er-Jahren erzählen. Die Stadt hatte eine unglaublich lebendige Szene. Ich wollte den Fokus aber bewusst eng halten. Denn es ist Vera Brandes’ Köln, es ist ihre Geschichte. Es geht darum, was sie gehört hat, wo sie hingegangen ist, woran sie geglaubt hat und wofür sie gekämpft hat.

Ein Restaurant im Zürich Flughafen wurde im Stil der 70er-Jahre nachgebaut. | Bild: Praesens-Film / Alamonde Filmverleih
Gab es besonders grosse Herausforderungen während der Dreharbeiten?

Ja, es war ein unglaublich schwieriger Dreh. Und nicht einfach, weil es ein historischer Film ist. Das bedeutet, dass wir alles unter Kontrolle haben mussten. Wenn wir zum Beispiel auf der Strasse gedreht haben, mussten wir schon Tage vorher diese von modernen Autos befreien und unsere eigenen historischen Autos dorthin bringen. Das Set-Design-Team musste dann alle modernen Elemente entfernen – Satellitenschüsseln, Klimaanlagen und vieles mehr. Es war extrem aufwändig.

Gleichzeitig wollte ich den Schauspielern aber völlige Freiheit geben, genauso wie ich das Drehbuch geschrieben habe. Ich wollte, dass sich der Film völlig improvisiert anfühlt. Mala Emde durfte überall hingehen, wo sie wollte. Es gab keine Markierungen, keine Vorgaben und keine festen Positionen. Es war ihr Film. Aber das macht es natürlich extrem schwer. Denn man kann keine absolute Kontrolle haben und gleichzeitig völlige Freiheit bewahren. Wenn Mala irgendwo hingegangen ist und wir die Kamera gedreht haben – und dann ein modernes Auto im Bild war, war das ein Problem. Es war ein ständiger Balanceakt. Das hat den Dreh extrem anstrengend gemacht, für alle Beteiligten. Aber ich glaube, genau das hat dem Film auch seine besondere Energie verliehen.

Auch eine kurze Filmszene erfordert eine grosse Vorbereitung. | Bild: Praesens-Film / Alamonde Filmverleih
Gibt es eine persönliche Ebene, die Sie in den Film eingebracht haben?

Ja, ich liebe Musik. Ich habe immer in Bands gespielt, seit ich vor 20 Jahren nach New York gezogen bin. Ich habe mich immer in irgendeiner Band wiedergefunden – alle waren erfolglos, aber ich war immer in der Musikszene aktiv.Für mich ging es hier nicht nur um Jazz. Es geht um jede Form von Musik und eigentlich um jede Form von Kunst. Denn als Regisseur erlebt man ständig Situationen, in denen etwas schiefgeht. Man kommt ans Set, und das Klavier ist kaputt. Das Auto, das man braucht, ist nicht da. Ein Schauspieler hat verschlafen. Die Statisten fehlen. Alles läuft irgendwie aus dem Ruder.

Und je erfahrener man als Regisseur, Filmemacher und Künstler wird, desto mehr lernt man, dass genau diese Probleme die Kunst am Ende oft besser machen. Würden die Aufnahmen des Köln Konzerts so besonders klingen, wenn Jarrett auf einem perfekten Klavier gespielt hätte? Wahrscheinlich nicht. Es wäre einfach ein weiteres Konzert gewesen. Es wurde grossartig, weil es dieses Problem gab. Probleme und Fehler sind essenziell für gute Kunst. Und genau darum geht es in dieser Geschichte.

Ido Fluk, ich danke Ihnen für das interessante Gespräch

Danke vielmal.