Seit dem 22. Juli läuft First Cow in den Schweizer Kinos. Der Film basiert auf dem Roman The Half-Life: A Novel von Jonathan Raymond. Das neue Werk von Regisseurin Kelly Reichardt feierte seine deutschsprachige Erstaufführung an der Berlinale 2020 und wurde im letzten Jahr in Deutschland sowie Österreich im Kino präsentiert. Nun dürfen auch die Schweizer das Western-Drama mit einer leisen Kapitalismuskritik erleben. Doch lohnt sich der Kinobesuch?
Es war einmal im Oregon-Territorium
Bundesstaat Oregon, Gegenwart: Auf der Suche nach Pilzen stösst ein Mädchen mit ihrem Hund an einem Flussufer auf einen Totenschädel. Mit dem Hund gräbt sie schlussendlich zwei gut erhaltene, erwachsene Skelette aus. Sind dies etwa Spuren eines Gewaltverbrechens oder woher stammen die Knochen?
Oregon-Territorium, um 1820: Otis Figowitz, von allen «Cookie» genannt, hat sich einer Gruppe von Pelztier-Jägern angeschlossen und bekocht diese mit bescheidenen Mitteln. Ihr Ziel ist das bekannte Fort Tilliken, welches unter der Führung eines britischen Grundbesitzers, «Chief Factor», steht. Der mürrische Trupp erhofft sich, dort die erbeuteten Pelze gegen gutes Geld verkaufen zu können. Als Cookie eines Nachts Pilze fürs Essen besorgt, stösst er auf einen nackten und frierenden Chinesen. Dieser stellt sich ihm als King-Lu vor und berichtet von einem blutigen Konflikt mit Russen. Dieser hat dazu geführt, dass sein Freund erschossen wurde und er selber nach einem Mord aus Notwehr fliehen musste. Cookie nimmt King-Lu auf und versteckt ihn im Transportkarren der Truppe. Um von den bösartigen Pelzfängern nicht entdeckt zu werden, flieht der Chinese aber und lässt den ratlosen Cookie verdutzt zurück.
Ein gefährliches Geschäftsmodell
Im Fort angekommen, macht sich der Koch nach der Auszahlung des Lohns Gedanken über seine Zukunft. Er träumt davon, nach San Francisco zu ziehen und dort ein Hotel oder ein Restaurant zu eröffnen. Da trifft er erneut auf King-Lu, der nun adrett gekleidet vor ihm steht und von diesem Traum ebenfalls begeistert ist. So machen sich die beiden erste Gedanken wie sie innert kurzer Zeit Geld für dieses Projekt sammeln können. Sie erfahren, dass der Besitzer des Forts, der feine Brite Chief Factor, eine Kuh aus Europa einschiffen liess, um seinen täglichen Tee geniessen zu können. Tatsächlich handelt es sich bei der reinrassigen Kuh um das erste Tier im ganzen Gebiet. Cookie weiss aus seiner Ausbildung in Boston, dass sich mithilfe von Milch wunderbare Speisen herstellen lassen.
So hecken die beiden einen Plan aus, den sie gewissenlos in die Tat umsetzen: Sie melken nachts das Tier, stellen anderntags Süssgebäck her und verkaufen es im Fort. Die Bewohner sind begeistert, bekämpfen sich regelrecht um die Neuheit und zahlen Höchstpreise. Cookie und King-Lu können die Nachfrage kaum decken und ihre Gier nach mehr Umsatz wird immer grösser. Als sich eines Tages der Besitzer des Forts (und somit der Kuh) für eine Kostprobe des Gebäcks ankündigt, wird es den beiden Geschäftsleuten mulmig. Wird er Cookie und King-Lu auf die Spur kommen?
First Cow kommt zunächst nicht in Fahrt
Der Kinofilm hat eine stolze Dauer von knapp zwei Stunden. Reicht das aus, um die tragische Geschichte von Cookie und King-Lu zu erzählen? Ja, aber auf eine eher umständliche Art und Weise, die dem Streifen eher schadet als nützt. So wird meiner Meinung nach viel zu viel Zeit mit dem Einstieg in die Geschichte verwendet. Es scheint, als dass der Streifen Mühe hat, so richtig in Fahrt zu kommen. Dazu trägt auch das sehr gemächliche Schnitttempo bei, das sich durchgehend durch den Film zieht. Höchstens in Konfliktsituationen nimmt es an Fahrt auf. Einzelne Sequenzen dauern sogar 30 – 60 Sekunden! Es sind jedoch keine aufwändig inszenierte Long-Takes, wie man sie von 1917 oder The Revenant kennt. Immerhin sind die Aufnahmen aber schön gefilmt und ruhig gehalten. Wackelige Aufnahmen sind nicht vorhanden.
Die Formatwahl ist nicht nachvollziehbar
Auffallend ist auch das gewählte Filmformat. Der komplette Streifen wurde, so wie bei Fabian oder Der Gang vor die Hunde, in 4:3 aufgenommen. Dieses Format ist für Porträts besonders gut geeignet und sorgt dafür, dass der Fokus stark auf einer Person liegt. In einem Interview hat die Regisseurin bestätigt, dass sie dem Film einen klaustrophobischen Look verleihen wollte und sich daher für dieses Format entschieden hat. Klar, die Waldszenen mit den hohen Bäumen kommen dadurch zwar klar zur Geltung, dafür der Rest nicht. Das liegt auch daran, dass viele Personen in Halbnah-Einstellungen gefilmt wurden und nicht in Nah- oder Close-Up-Takes. Für mich ist daher diese Formatwahl nicht gelungen und völlig unpassend. Bei einem Western, wie beispielsweise Spiel mir das Lied vom Tod, ist ein Breitbildformat quasi Pflicht. So haben die Macher von Fabian oder Der Gang vor die Hunde diesen schönen, grobkörnigen Look eines Films darstellen wollen und zudem Super 8-Kameras verwendet. Bei First Cow wurden digitale Arri Alexa Mini-Kameras eingesetzt, welche die Atmosphäre eines klassischen Films niemals erreichen können.
Das Schauspiel und Set-Design überzeugen
Ein grosser Pluspunkt des Films bietet das schöne und akkurate Set-Designs. Es zeigt sehr eindrücklich, wie die Menschen in dieser Zeit gelebt haben und welche Mittel ihnen zur Verfügung standen. Aus diesem Grund haben sich die Macher auch bei der Herstellung des im Film gezeigten Süssgebäcks an den historischen Begebenheiten orientiert. Die Requisiteure haben ausschliesslich Zutaten und Hilfsmittel verwendet, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfügbar waren. Als Kontrast zu den billig gebauten Hütten, steht das prachtvolle Haus des Chief Factors. Ein schönes Detail, welches zeigt, wie gross die Schere zwischen Arm und Reich schon damals gewesen ist.
Im Mittelpunkt des Films stehen klar die beiden Hauptcharaktere Cookie und King-Lu. Diese werden von John Magaro und Orion Lee mit vollem Körpereinsatz gespielt. Ein sehr überzeugendes und ruhiges Schauspiel, welches gut mit der Stimmung des Films und dessen Prämisse harmoniert. Magaro hat bereits in The Big Short, The Finest Hours und in diversen Serien mitgespielt. Der chinesische Schauspieler Orion Lee wurde durch Theaterengagements und dem Drama Only You bekannt.
In der Rolle des Chief Factor ist Toby Jones zu sehen, den viele Kinogänger aus Filmen wie Die Tribute von Panem, Harry Potter, Atomic Blonde und Jurassic World: The Fallen Kingdom kennen. Darin war er in kleineren Rollen zu sehen. Auch er liefert in First Cow ein überzeugendes Schauspiel ab und steht quasi als Stellvertreter des kapitalistischen Systems da. Dies ist auch die Botschaft des Films. Alle Pelzjäger und Besucher des Forts suchen ihr grosses Glück, während der Chief Factor in Reichtum schwimmt und sich als Luxusgut eine Kuh importieren lässt. Cookie und King-Lu versuchen, etwas vom Kuchen abzuschneiden und werden, ausgelöst durch den plötzlichen Ertrag ihres Geschäfts, selber ein Teil des Systems. So werden sie zwar gieriger, indem sie die Ware zu Höchstpreisen anbieten, sind jedoch völlig geblendet und nehmen keine Rücksicht auf ihre Mitmenschen. Dies wird in First Cow sehr gut dargestellt. Um nicht gross zu spoilern, gehe ich auf den Ausgang ihres Schicksals bewusst nicht mehr ein.
Mein Fazit zu First Cow
Der neue Streifen von Kelly Reichardt, der durch die Corona-Pandemie und somit der Schliessung der Kinos kaum Beachtung fand, trumpft dank starkem Schauspiel und und einem passenden Set-Design auf. Bei der Länge und dem Story-Aufbau schwächelt er deutlich und langweilt den Zuschauer anfangs. Ich hätte mir zudem (am Besten am Ende des Films) eine Anschluss-Szene für die Skelett-Szene vom Anfang des Streifens gewünscht. Immerhin bietet der Streifen am Ende einen kleinen Spielraum für Interpretationen. Für Freunde von Action-Kino ist er definitiv nicht geeignet, sondern spricht vielmehr Arthouse-Fans an.
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