Am 5. Dezember wurde mit Flow ein besonderes Werk in die Deutschschweizer Kinos gespült: Der neue Animationsfilm des lettischen Filmemachers Gints Zilbalodis verzichtet auf Dialoge und nimmt stattdessen eine komplett tierische Perspektive ein. Bis jetzt sorgte Flow auf internationalen Filmfestivals schon für reichlich Furore und gewann u.a. den Europäischen Filmpreis 2024 in der Kategorie «Bester Animationsfilm». Mit Flow darf Lettland sogar auf einen Oscar hoffen, denn der Film hat es in die finale Auswahl der Kategorie «Best International Feature Film» geschafft – als erster lettischer Film überhaupt. Konnte Flow auch mich als eingefleischte Animationsfilm-Liebhaberin mitreissen?
Biblische Ausmasse
Dicht begrünt und menschenleer – so präsentiert sich das Setting von Flow in den ersten Minuten. Inmitten dieser Idylle lebt eine schwarze Katze in einem verlassenem Haus. Doch ihr ruhiger Alltag wird jäh unterbrochen: Kaum kann sie sich von einer Verfolgung durch eine Horde Hunde erholen, reisst eine plötzlich auftauchende Flut sie mit sich. Der Katze bleibt nichts anderes übrig, als sich auf den höchstgelegenen Punkt zu retten und auf Hilfe zu hoffen. Während der Wasserpegel immer weiter steigt, treibt gerade noch rechtzeitig ein Segelboot vorbei. Auf dem Boot befindet sich jedoch kein Mensch – stattdessen erwartet sie ein Capybara.
Erzwungene Veränderungen
Auf der Reise durch die überflutete Landschaft gesellen sich zur Katze und dem Capybara weitere tierische Begleiter: Ein sammelfreudiger Lemur, ein verstossener Sekretärvogel und ein Golden Retriever, der einst Teil der katzejagenden Horde war. Die Tiere müssen nun um des Überlebens willen auf ihrem neuen, sehr viel kleinerem Lebensraum miteinander zurecht kommen. Ihre unterschiedlichen Charaktereigenschaften werden bald zur Herausforderung; subtile Spannungen und Missverständnisse prägen das Zusammenleben, während das Ziel ihrer Reise unklar bleibt – sowohl für die tierische Truppe als auch für den Zuschauer. Doch es entstehen nicht nur auf dem Boot Schwierigkeiten, sondern auch abseits davon. Die schiere Wassermenge macht vorallem der Katze das Leben schwer und zwingt sie zu einer Anpassung ihrer Überlebenstechniken, wie der Suche von Nahrung.
Post-Anthropozän
Nicht nur das anfängliche Setting präsentiert sich menschenleer, sondern auch der Rest des Films. Flow ist eines der wenigen Werke, in denen Menschliches nur über Gegenstände wie das Segelboot und die verbliebene Architektur vorhanden ist. Flora und Fauna spielen die Hauptrolle, und dies unterstreicht Flow gekonnt durch das Weglassen von menschlichem Dialog: Die Kommunikation zwischen den Tieren wird allein durch Tierlaute, Gestik und Mimik transportiert. Auf der Suche nach passenden Lauten für das Capybara (die normalerweise eher still sind) organisierten Gints Zilbalodis und sein Team extra ein Open Casting, bei dem sie sich verschiedene Tiere anhörten; die Wahl fiel schliesslich auf ein Kamel.
Auch wenn Menschen in Flow nicht auftauchen, bilden ihre architektonischen Überbleibsel einige der visuellen Highlights des Films: Insbesondere die Szenen in der verlassenen Stadt à la Petra sind wunderschön gestaltet, und erinnern an Concept Art aus der Videospiel-Industrie. Zu Beginn des Films werfen einige von Menschenhand geschaffenen Strukturen auch Fragen auf, die Flow nicht beantwortet. Dies kann beim Schauen etwas frustrierend sein, da man vergeblich auf eine «Erklärung» wartet; im Nachhinein fand ich persönlich jedoch das Offenlassen dieser Details eine passende künstlerische Entscheidung.
Blendendes Wasser in Flow
Doch vorallem prägt das Wasser die visuelle Ästhetik von Flow. Hier liessen sich Gints Zilbalodis und sein Team offenbar vom japanischen Animationsstil inspirieren: Die hyperrealistische glitzernde Wasseroberfläche, die man vorallem aus Makoto Shinkais Filmen kennt, sieht man auch in Flow. Szenen im Wasser selbst sind so immersiv bezüglich Kamerawinkel, Licht- und Farbgebung gestaltet, dass man als Zuschauer das Gefühl hat, sich selbst im Wasser zu befinden. Einige Szenen waren beim Zuschauen demnach auch etwas stressinduzierend.
Dass ein Indie-Animationsfilm aus Lettland so viel Wasser enthält ist beachtlich: Wasser ist schwierig zu animieren und benötigt oft zusätzliches Wissen und Tools, um es im Animationsprozess kontrollieren zu können. Demnach steigen mit grossen Wassermengen auch die Kosten. Für die Wasserwesen in Elemental beispielsweise musste Pixar (ein Gigant in der Animationsfilm-Industrie) eine komplett neue Produktionspipeline aufstellen. Laut Gints Zilbalodis hatte er das Glück Techniker im Team zu haben, die benutzerdefinierte Tools eigens für die Wasseranimation erstellen konnten. Diese Spezial-Tools sind auch möglicherweise der Grund, wieso die grosse Wassermenge in Flow innerhalb des Budgets machbar war. Da das Wasser bei Flow im Vergleich zu Elemental vom Aussehen stark stilisiert ist, konnte sich das Team um Zilbalodis Rechenpower und Kosten einsparen. Ermöglicht hat dies die Software Blender, in der Flow komplett animiert wurde.
Zu seicht
Die Handlung von Flow dümpelt jedoch etwas dahin, und wird mehr von der visuellen Atmosphäre, als von einem klaren erzählerischen Verlauf getragen. Als Zuschauer fühlt man sich auf der ziellosen Reise der Tiere etwas verloren – und mitunter auch gelangweilt. Gelegentlich gibt es intensive Momente durch die Flow an Fahrt aufnimmt, diese retten aber die ziemlich seichte Geschichte leider nicht. Darüber hinaus sind einige Szenen nicht ganz verständlich, insbesondere die Klimax. Diese und einige andere traumähnliche Sequenzen greifen auf magischen Realismus zurück; sie sind toll anzuschauen, können aber ihren Sinn nicht verständlich rüberbringen. Figurentechnisch war der Sekretärvogel am interessantesten von allen Tieren, da dieser eine gewisse Komplexität besitzt. Leider kann man dasselbe nicht über die Katze sagen, die ziemlich stereotyp dargestellt wird, auch wenn sie gegen Ende von Flow eine kleine charakterliche Entwicklung durchmacht.
Mein Fazit zu Flow
Mein neuer Liebling unter den Animationsfilmen wird Flow leider nicht, dafür besitzt der Film für mich zu wenig Tiefe, Zugänglichkeit und eine klare Linie. Gints Zilbalodis selbst beschreibt Flow als ein filmisches Erlebnis, das man auf sich wirken lassen sollte, ohne zwanghaft nach einem tieferen Sinn zu suchen. Persönlich bin ich ein grosser Fan von starken Geschichten mit interessanten Figuren, und dies fehlt bei Flow gänzlich. Jedoch gibt es viele Elemente, bei denen Flow mich überzeugt hat: Einerseits finde ich den fehlenden Dialog und den Fokus auf tierische Protagonisten interessant und wichtig.
Es gibt zu wenige Werke, die sich auf nicht-Menschliches konzentrieren; mit solchen Filmen kann man eventuell ein grösseres Verständnis für die Natur und ihre Bewohner schaffen. Andererseits finde ich die Visualität von Flow beachtenswert, vorallem wenn man bedenkt, dass sie in einer kostenlosen Software erstellt wurde. Auch wenn Flow mich nicht vollständig überzeugt hat, bleibt der Film ein einzigartiges, visuell beeindruckendes Werk, das sich mutig von klassischen Animationsfilmen abhebt. Ich blicke gespannt auf die nächste Oscar-Verleihung.
Kann ich absolut nicht nachvollziehen die Kritik, denn wenn man noch mehr Handlung nach menschlichem Muster hineinbringt, würde es gerade das zerstören was den Film ausmacht. Man hat freie Phantasie und Tiere sind Tiere, da finde ich schon klitzekleine Sachen wie Bootsteuern oder Sachen ins Boot tragen mehr als genug um es nicht zu vermenschlichen. Ebenso finde ich den Weg der Katze und ihre Entscheidungen stark, gerade z.B. wie sie am Ende spürt und hinläuft zum sterbenden Wal, der sie zufällig oder gewollt am Anfang des Filmes vorm ertrinken gerettet hat, oder es lernt Fische zu fangen und die anderen zu Versorgen. Das spiegelt in vielem die wahre Katze wider. Ich habe aktuell 6 dieser starken Freunde.
wie viele Andere war ich oft sehr gerührt von der Machart des Films
Gruß Matthias
Lieber Matthias
Vielen Dank für deine Gedanken!
Da hast du Recht, der Film enthält einige tolle Szenen und Details, besonders am Anfang und gegen den Schluss (diese Momente fand ich auch super!). Ich bin jedoch der Meinung, dass es von diesen Momenten zu wenige gab, und der Film fällt zu einem Grossteil für mich deswegen sehr flach aus (weil der Grossteil auch etwas repetitiv war und handlungstechnisch keine klare Richtung hatte). Für eine fesselnde Story brauche ich etwas mehr.
Aber dann kommen wir natürlich auch zur Frage, ob ein Film immer eine super Story braucht, oder ob es auch einfach eine visuelle Erfahrung sein darf. Ich glaube, Gints Zilbalodis‘ Ziel war vorallem letzteres.
Dein Punkt mit der „Gefahr“ der Vermenschlichung, wenn man mehr Handlung reinbringen würde, finde ich sehr legitim und das hat sicher bei der Entwicklung des Filmes auch noch mit rein gespielt. Der Film ist ja auch extra so angelegt, dass möglich nichts typisch Menschliches drin vorkommt.
Die Charakterentwicklung der Katze fand ich auch gut, und das war dann auch nicht mehr so stereotyp. Was mich vorallem stört, ist die anfänglich sehr stereotype Darstellung der Tiere (allen voran die der Katze und des Golden Retrievers), und da hätte ich mir noch etwas ausgebautere Figuren gewünscht.
Deine Punkte sind auf jeden Fall alle sehr legitim! Meine Gedanken rühren vorallem daher, dass ich bei Filmen nicht nur auf die Machart, sondern auch die Story sehr wichtig finde; ein guter Film vereint für mich beides. Aber da Filme in erster Linie ein visuelles Medium sind, sollte ich eventuell meinen Horizont diesbezüglich erweitern, und mich darauf einlassen, dass einige Filme einfach nur eine visuelle Reise sein möchten. Dies hätte ich im Nachhinein etwas differenzierter ausdrücken können in meiner Review.
Nochmals vielen Dank, und liebe Grüsse an dich und deine sechs Katzen! (bin selber grosser Katzenfan)
Victoria