Seit dem letzten Sonntag läuft Paradise Highway in den Schweizer Kinos. Ab dem 7. Oktober gibt es den Thriller in Deutschland und Österreich direkt auf Blu-ray zu kaufen. Das ungewöhnliche Roadmovie, mit Beteiligung aus Deutschland und der Schweiz, wurde am 6. August im Rahmen des 75. Locarno Film Festivals gezeigt. Neben der Regisseurin Anna Gutto war auch ein Teil des Casts anwesend: Juliette Binoche, Hala Finnley, Christiane Seidel und Cameron Monaghan. Im Interview weiter unten bietet die Oscar-Preisträgerin einen spannenden Einblick in die Vorbereitungen auf die Dreharbeiten.
Eine riskante Fracht
In diesem Thriller mit Roadmovie-Elementen erleben wir Juliette Binoche als LKW-Fahrerin Sally, die sich auf eine gefährliche Reise begibt, um ihren Bruder Dennis zu retten. Dieser sitzt im Gefängnis und wird von einer der dort inhaftierten Gangs bedroht. Um sich vor ihr zu schützen, muss seine Schwester im Auftrag der Verbrecher oftmals illegale Pakete befördern. Beim letzten Transport entpuppt sich die Fracht als ca. 12-jähriges Mädchen namens Leila. Als Sally empörend ablehnt, stellt ihr die Bande ein Ultimatum: Sollte sie den Auftrag nicht ausführen und die Kleine über die Staatsgrenze schmuggeln, stirbt Dennis im Knast. Bei der geplanten Übergabe läuft allerdings einiges schief und Sally bleibt nichts anderes übrig, als mit Leila zu fliehen. Nach und nach beginnt die hartgesottene Truckerin, ein Vertrauen zu ihrem ungewöhnlichen Fahrgast aufzubauen.
Die geplatzte Übergabe hat mittlerweile nicht nur die Gangster, sondern auch das FBI auf den Plan gerufen. Der pensionierte und hartnäckige FBI-Agent Gerick und sein neuer, junger Kollege Sterling nehmen sich dem Fall an und jagen jedem Hinweis hinterher. Gerick ist dazu entschlossen, alles zu unternehmen, um den Menschenhändlerring zu zerschlagen. Mit seiner eher unbürokratischen Art stösst er den frischen Uni-Abgänger Sterling allerdings vor den Kopf. Währenddessen befindet sich Sally in einem Dilemma: Liefert sie Leila aus, macht sie sich strafbar. Wenn sie es nicht tut, bringt sie ihren Bruder in Gefahr. Für wen wird sie sich entscheiden?
Paradise Highway ist einfühlsam und düster zugleich
Die Story von Paradise Highway gewährt einen ungewöhnlichen und detaillierten Einblick in die Welt der Trucker-Fahrerinnen in den Vereinigten Staaten. Zeitweise erinnert er den Zuschauer sogar an eine Dokumentation. Der Look des Films ist sehr düster und in Grüntönen gehalten, was das schmutzige Leben dieser Frauen und den Involvierten sehr unterstreicht. Es ist der Debütfilm der Regisseurin Anna Gutto, die auch das Drehbuch dazu geschrieben hat. Der Fokus liegt dabei auf zwei Haupthandlungsstränge. Das wären einerseits die Momente mit Sally und Leila und andererseits die Jagd auf die beiden, durchgeführt von Gerick und seinem Gehilfen. Diese Stränge hat Gutto geschickt miteinander verknüpft- auch wenn der Film an manchen Stellen ein bisschen gekürzt hätte werden können. Bei der Auswahl des Casts hat Gutto jedoch eine gute Wahl getroffen.
Der jungen Leila-Darstellerin Hala Finnley merkt man überhaupt nicht an, dass sie neu im Filmbusiness ist. Gekonnt schafft sie es, das verzweifelte und gleichzeitig kämpferische Entführungsopfer darzustellen. Morgan Freeman spielt, wie man es von ihm gewohnt ist: Solide und authentisch. Mit seiner ruhigen Art stellt er zudem einen Gegenpol zu der ansonst so rasanten Handlung dar. Das schauspielerische Highlight ist aber mit Sicherheit Juliette Binoche.
Die sonst eher zierliche Frau tritt hartgesotten auf und nimmt auch kein Blatt vor den Mund. In Paradise Highway ist sie sehr taff, zeigt sich jedoch hin und her gerissen, wenn sie sich zwischen Leila und ihrem Bruder entscheiden muss. Um sich auf die Rolle vorzubereiten, begleitete Binoche wochenlang eine Trucker-Fahrerin auf ihrer Arbeit, wie sie uns an der Pressekonferenz verriet. Ferner tauschte sie sich mit Desiree Wood aus. Sie ist Gründerin und Präsidentin der REAL Women in Trucking, Inc., einer von Frauen geführten Basisorganisation für LKW-Fahrerinnen.
Interview mit Juliette Binoche über Paradise Highway
Whatthefilm.ch durfte seit seiner Gründung zum ersten Mal an einem Roundtable teilnehmen und sich mit der französischen Hauptdarstellerin unterhalten. Bereits an der Pressekonferenz zeigte sich Juliette Binoche locker und gut gelaunt. Elegant und adrett gekleidet, gibt sie später den zahlreichen Journalisten in einem kühlen Konferenzzimmer des Hotels La Palma au Lac Auskunft über Paradise Highway.
Frau Binoche, was hat Sie in der Welt der LKW-Fahrerinnen am meisten überrascht?
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es tatsächlich Frauen in diesem Beruf gibt. Ich war überrascht zu erfahren, dass die meisten von ihnen vergewaltigt werden, wenn sie den Führerschein machen müssen. Das war mir nicht bewusst. Denn die Fahrlehrer sind nur männlich. Ich weiss, dass Desiree Wood an dieser Problematik arbeitet. Auch war ich mir des Menschen- und Sexhandels in dieser Trucker-Gesellschaft überhaupt nicht bewusst. Daher dachte ich, dass es wichtig ist, die Geschichte zu erzählen. Und ich wusste nichts von den langen Arbeitszeiten, die sehr, sehr streng geregelt sind. Sie wissen genau, wie lange sie fahren dürfen, wie lange sie sich ausruhen müssen.
Und ich wusste auch nicht, dass es eine so harte Lebensweise ist, weil man keine Möglichkeit hat, eine anständige Mahlzeit zu bekommen. Wenn man Zeit hat, hält man kurz an den Truckstops an. Und das Essen dort ist wirklich schrecklich. Einige von ihnen haben sogar eine kleine Küche in der Fahrerkabine. Sie versuchen, sich dieses Leben irgenwie zu ermöglichen. Und ich habe auch gelernt, dass manche diesen Job erledigen, weil es ihnen dieses Gefühl von Freiheit gibt.
Sie haben während der Vorbereitungen auf ihre Rolle eine echte Trucker-Fahrerin begleitet. Im Film bewegen Sie sich auch ziemlich maskulin. Haben Sie das extra antrainiert?
Nun, nicht speziell, für mich ist es eine Art, sich zu schützen. Ich erinnere mich, dass es, als ich als junge Schauspielerin abends von der Schule zurückkam, ziemlich spät war und ich die letzte U-Bahn nahm. Daher änderte ich die Art, wie ich lief, denn einen Teil musste ich zu Fuss gehen. Die Gangart ist also etwas, das man ändert, wenn man es braucht. Und ich denke, mein Charakter muss stark sein. Sozusagen ist es also eine natürliche Art, sich zu schützen.
Sie haben sogar gelernt, einen Lastwagen zu fahren. Wie war diese Erfahrung?
Ich habe es geliebt. Ich habe es wirklich geliebt. – Ja. Alles, was körperlich ist, macht uns Schauspielern Spass. Und ich bin der Typ Mensch, der körperliche Herausforderungen liebt. Da der Film wegen der Corona-Pandemie verschoben wurde, konnte ich allerdings nicht mehr üben. Das hat mich schon getroffen. Also habe ich darum gebettelt, dass ich vor dem Dreh nochmals mit dem Truck fahren durfte. Das hätte aufgrund des knappen Filmbudgets fast nicht geklappt, aber ich habe sehr drauf bestanden und so konnte ich nochmals trainieren. Denn ich wollte, dass ich auch wirklich dann zu sehen bin, wie ich fahre.
Dieser Film ist ja quasi ein Roadmovie. War es für Sie interessant, die USA aus einem anderen Blickwinkel zu entdecken?
Ja, ich habe Mississippi entdeckt. Und Arkansas, weil wir auch für eine kurze Zeit dort gedreht hatten. Ich habe diese Welt wirklich entdeckt und erkannt, wie schwierig es ist, dort zu leben – insbesondere wenn man Teil der schwarzen Gemeinschaft ist. Wenn man an diese Orte geht, ist es anders, als wenn man darüber liest oder Dokumentarfilme sieht. Da spielt auch Corona und die Hitze eine Rolle. Es gibt dort auch nicht sehr viel Arbeit. Zudem herrscht dort eine Monokultur und es gibt dort die Reichen, welche die Ländereien besitzen. Das macht es schwierig für die Bevölkerung.
Glauben Sie, dass dieser Film einige Organisationen oder Menschen aufrütteln wird, um mehr gegen den Menschen- oder Sexhandel zu unternehmen?
Das kann ich nicht sagen. Vielleicht hilft er, die Problematik ins Bewusstsein zu rufen. Mehr Bewusstsein hilft immer der Entwicklung der Menschen und der Gesellschaft. Das glaube ich zumindest. Aber ob der Film ihnen helfen wird, weiss ich nicht. Ich weiss aber, dass Desiree versucht, eine Menge für LKW-Fahrerinnen zu tun. Ich denke, je mehr man darüber spricht, desto besser ist es. Und wenn man einen LKW-Fahrer mit einem Jugendlichen, einem Teenager oder einem kleinen Kind sieht, ist das nicht normal und sollte hinterfragt werden.
Wie war Ihre Beziehung zu der jungen Schauspielerin Hala?
Ich habe sie gemocht. Ich glaube, sie hat wirklich die Verantwortung für ihre eigene Figur übernommen. Und ich bewunderte wirklich, wie sie sich vor den Dreharbeiten vorbereitete und wirklich hundert Prozent gab. Das hat mir die Arbeit erleichtert. Nach einer Kampfszene habe ich sie zum ersten Mal in den Arm genommen, um mich zu vergewissern, dass es ihr gut geht. Dadurch hat sie mir auch besser vertraut. Ich hatte das Gefühl, dass sie aufgrund ihrer noch nicht so grossen Filmerfahrung auch ein bisschen misstrauisch war. Aber dann haben wir uns gut verstanden und auch gekichert, als uns die Moskitos während des Drehs attackiert haben (lacht).
Wie war es, mit Morgan Freeman zu arbeiten?
Er ist so bodenständig. Ich denke, dass er eine gewisse Würde und Menschlichkeit ausstrahlt – das kann man in seinen Augen sehen. Einmal, als wir zusammen geprobt haben, sind wir die Szene und unseren Text durchgegangen. Als wir damit angefangen haben, ist irgendetwas Technisches vorgefallen. Während wir unseren Dialog übten, hat die Crew im Hintergrund gearbeitet und Dinge umgestellt. Er machte weiter, als ob nichts passiert wäre – bis zum Ende. Ich war fasziniert davon. Wissen Sie, jeder andere Schauspieler hätte gesagt: «Wie? Was ist los, hören wir auf zu proben?»
Wie sind Sie zu dem Projekt gekommen? Wurden Sie gecastet oder wie kam das zustande?
Nun, ich habe mich mit der Regisseurin getroffen. Da sah ich ein Storyboard und ich konnte auf den Zeichnungen ein Gesicht erkennen, das mich an Michelle Pfeiffer erinnerte. Ich dachte zuerst: Oh, wahrscheinlich haben sie Michelle Pfeiffer für die Hauptrolle gecastet. Aber dann habe ich die Rolle bekommen. Aber wie sie auf mich gekommen sind, habe ich tatsächlich nicht gefragt.
Sie drehen ja sehr viele Filme. Glauben Sie, dass Sie ohne die Schauspielerei nicht leben könnten? Wäre es Ihnen sonst langweilig?
Nein, das nicht. Ich habe neben der Schauspielerei auch andere Dinge im Leben. Für die hatte ich während der Pandemie Zeit. So habe ich an der Übersetzung eines Textes gearbeitet und viel mit meinen Kindern gekocht. Ausserdem male ich auch gerne. Ich bin immer sehr aktiv gewesen, egal was passiert ist. Und ich liebe die Schauspielerei, da sie sehr kreativ sein kann – auch wenn man mit anderen arbeitet. Es ist jedes Mal eine Reflexion des Menschseins für mich. Das ist wirklich aufregend und ich fühle mich sehr glücklich.
Apropos Schauspielerei: Ist es für Sie schwer, eine Rolle nach den Dreharbeiten wieder loszuwerden?
Nein, das ist für mich kein Problem. Denn wenn man wirklich alles gibt und der Dreh beendet ist, ist es vorbei. Bei Paradise Highway war ich jedoch einmal sehr frustriert, weil die Crew mir während des Drehs nur einen Take erlaubten, und das gefiel mir nicht.
Welcher war das?
Es war ein Take mit Hala. Wir kommen an einem Truckstop an und es gibt einen Dialog zwischen uns und dann frage ich Leila, ob sie Familie hat. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich keinen zweiten Take machen, was ich sehr schade fand.
Im Film tragen sie Männerkleidung. Hat Ihnen das beim Schauspielern geholfen?
Ja, schon. Besonders die Stiefel. Schuhe sind sehr wichtig für Schauspieler. Aber auch die Kostümbildnerin war sehr gut. Die erste Jeans, die ich anzog, war die, die ich im Film trage. Sie kam aus New York und fuhr nach Mississippi, Jackson. Sie hielt an einer Raststätte an und kaufte dort T-Shirts und Hemden für den Film.
Haben Sie ein Interesse daran, einmal selbst Regie zu führen?
Ja, aber gleichzeitig gibt es in meinem Leben so viele Gelegenheiten, mit grossen Regisseuren und an wunderbaren Geschichten zu arbeiten. Und ich weiss, wie viel Arbeit man in einen Film hineinsteckt und wie lange es dauert, bis es zum Drehstart kommt. Es gibt so viele Einzelheiten, an die man denken muss, damit ein Film gedreht werden kann. Es ist eine beträchtliche Menge Aufwand.
Was ist ein Roundtable?
Dabei handelt es sich um eine gängige Form für Interviews. Diese finden oftmals in teuren Hotels statt. Bei einem Roundtable versammeln sich die anwesenden 6-10 Journalisten um den Star, im Fachjargon auch Talent genannt, und dürfen dann innerhalb von 15-20 Minuten Fragen stellen. Roundtables sind eine überaus praktische Interviewform für Filmverleiher, da innerhalb kurzer Zeit viele Journalisten bedient werden können. Eine andere Variante ist dass One-on-One, bei dem der Pressevertreter mit dem Talent ein Einzelinterview führt. Je nach Kapazitätsgründen und Nachfrage entscheiden sich die Filmverleiher auch recht kurzfristig für die sprechende Interviewform.
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