Heute feiert Sew Torn seine Europapremiere am 77. Locarno Film Festival. Es handelt sich dabei um den ersten Spielfilm vom Nachwuchstalent Freddy McDonald. Das Erstaunliche an Sew Torn? Er basiert auf einem gleichnamigen Kurzfilm, den McDonald selbst geschrieben, gedreht und ihn nun zu einer grösseren Geschichte ausgebaut hat. Prominent besetzt mit Eve Connolly, Calum Worthy, Caroline Goodall, John Lynch, K Callan oder Thomas Douglas. Zudem wurde der Film nicht in Hollywood, sondern im schweizerischen Vättis gedreht. Wie gut ist das Ergebnis?
Die Näherin mit der Qual der Wahl
Barbara Duggen (Eve Connolly) arbeitet als mobile Näherin in einem malerischen Schweizer Bergdorf, am Fusse des Tamina Passes. Ihr Leben ist eher trist. Zum einen muss sie den Tod ihrer geliebten Mutter verkraften und befindet sich in einer depressiven Stimmung. Zum anderen hat sie den Nähladen der Mutter übernommen und hat Mühe, in ihre Fussstapfen zu treten. Sie hat nur wenige Kunden und hohe Schulden. Eines Tages ruft sie die hysterische Grace Vessler (Caroline Goodall) an, Barbara soll ihr Hochzeitskleid reparieren. Da jedoch dabei ein Knopf (nicht ganz unabsichtlich) verloren geht, fährt die junge Frau eilig zurück in ihr Geschäft.
Unterwegs gerät sie in eine nicht gerade alltägliche Situation. Zwei bewaffnete und verwundete Männer, zwei Motorräder, verstreutes Kokain und ein Koffer liegen auf dem Boden der Landstrasse. Ob da ein Drogendeal schief gelaufen ist? Barbara vermutet in dem Koffer viel Geld. Das käme ihr bei ihrer Situation gerade recht. Was soll sie nun tun? Einfach weiterfahren, die Polizei rufen oder das Geld selbst an sich nehmen? Sie entschliesst sich für letzteres und bastelt mithilfe von Nadel und Faden eine fiese Falle für die beiden Verunglückten. Doch kaum ist sie mit dem Geld davongefahren, beginnen die Probleme. Wie kommt sie heil aus der Geschichte heraus?
Ein hochkarätiger Cast
Für die Besetzung konnten einige sehr talentierte Gesichter gewonnen werden. Eve Connolly spielt Barbara Duggen mit all ihren Facetten und verzweifelten Gefühlen sehr nuanciert. Gleiches gilt für Calum Worthy, der den Drogendealer Joshua spielt. Caroline Goodall ist als hysterische Kundin Kessler zu sehen. Eine sehr interessante Figur, zumal sie sich über Barbaras Leben lustig macht und erwähnt, dass sie an diesem Tag ihren dritten Mann heiratet. Goodall verleiht dem Film mit ihrem Namen eine sehr internationale Note. Hat sie doch bereits in vielen bekannten Filmen wie Schindlers Liste, Hook, Plötzlich Prinzessin oder Herr der Diebe mitgespielt.
Das gilt auch für K Callan, die die Dorfpolizistin und Standesbeamtin in Personalunion namens Ms. Engel, spielt. Vielen dürften sie wahrscheinlich aus Produktionen wie Cold Case, Grey’s Anatomy, The Mentalist, Navy CIS, How I Met Your Mother oder Rian Johnsons Knives Out bekannt sein. Auch gibt es einen kleinen Auftritt vom Schweizer Schauspieler Werner Biermeier, den wir zuletzt in Mad Heidi gesehen haben – in Sew Torn als leidtragender Ehemann Nr. 3 hinhält. Diese Konstellation ist einfach nur gelungen. Kurzum gesagt: Der Cast ist fantastisch und harmoniert perfekt.
Bild und Ton zeichnen Sew Torn aus
Die Kameraarbeit ist fantastisch. Wunderbare Ultra-Close-ups, Nahaufnahmen und idyllische Bilder der Schweizer Landschaft. Durch die schöne Tiefenschärfe und die wackelige Handkamera entsteht ein klaustrophobisches Gefühl. Ergänzt wird dies durch einen Neo-Noir-Look und einem schnellen und gelungenen Filmschnitt. Beeindruckend ist auch der Soundtrack von Sew Torn. So gibt es ein Geräusch, das an eine ratternde Nähmaschine erinnert und eingesetzt wird, um die Hektik, mit der Barbara zu kämpfen hat, zu vermitteln. Komponist Jacob Tardien nutzte für den Score ausserdem das Instrument Theremin. Dieses wurde beispielsweise für das Intro von Inspector Barnaby oder für den Soundtrack von Damien Chazelles First Man verwendet. Durch seine Klänge wirkt die Stimmung im Film noch um einiges unheimlicher. Daneben gibt es noch ein paar 60er-Jahre Songs, die das Gefühl eines Neo-Noir-Films optimal vermitteln.
Erstaunliche Spezialeffekte ohne VFX
Besonders auffallend sind die Szenen, in denen Barbara aus Spulen, Fäden und Seilen eilig Vorrichtungen baut, die dann ihren Zweck erfüllen. Was für Zwecke das sind, soll hier nicht verraten werden. Aber wie wurde das gemacht? Ein Telefonat mit der Produktionsfirma Orisono bestätigt die Vermutung. Alles ist am Set und ohne Hilfe von Visual Effects (VFX) entstanden. Regisseur Freddy McDonald und sein Vater Fred hätten die Geräte zunächst zu Hause aufgebaut und ausgiebig getestet. Videos davon wurden an die Hauptdarstellerin Eve Connolly geschickt, damit sie sich vorbereiten konnte. Am Set wurde dann alles nachgebaut und Einstellung für Einstellung gefilmt. Das zeigt einmal mehr, dass nicht nur Filme mit grossem Budget und unzähligen VFX für gute Unterhaltung sorgen können. Oft sind es gerade die kleineren Streifen, die mit viel Herzblut und realistischen Effekten produziert werden und dadurch wirken.
Mein Fazit zu Sew Torn
Sew Torn zeichnet sich durch eine gelungene Kameraführung und eine Handlung aus, die man so in letzter Zeit nicht gesehen hat. Ein bisschen hat er mich dadurch an Butterfly Effekt aus dem Jahre 2004 erinnert. Freddy McDonald, der auch das Drehbuch geschrieben hat, beweist ein gutes Händchen. Die Schauplätze, die Inszenierung und alle Details sind perfekt aufeinander abgestimmt. Von dem 24-jährigen schweizerisch-amerikanischen Nachwuchstalent wird man sicher noch viel hören. Sew Torn hat bereits am SXSW Filmfestival in Texas für Furore gesorgt und wird es mit Sicherheit am Locarno Film Festival wiederholen. Eine Kinoauswertung ist zurzeit noch nicht festgelegt.
PS: Im Herbst 2022 wurde Sew Torn im schweizerischen Vättis (Kanton St. Gallen) gedreht. Wir durften damals während eines Tages der Filmcrew über die Schultern schauen und die Dreharbeiten besuchen. Dabei konnten wir auch kurz mit Regisseur Freddy McDonald und Kameramann Sebastian Klinger sprechen. Das Video dazu gibts dann nach dem Kinostart auf YouTube zu sehen.
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